Gerichtsberichterstattung und Erinnerung an den Nationalsozialismus – Teil 2: Die 2000er- und 2010er-Jahre

Gerichtsberichterstattung und Erinnerung an den Nationalsozialismus – Teil 2: Die 2000er- und 2010er-Jahre

Organisatoren
Marie-Bénédicte Vincent, Université de Franche-Comté; Nathalie Le Bouëdec, Université de Bourgogne
Ort
Dijon und digital
Land
France
Vom - Bis
24.09.2021 - 24.09.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Fritz Taubert, Paris

Die Tagung war die zweite einer Doppelveranstaltung, die im Juni 2021 in Besançon unter dem Titel „Chronique Judiciaire et mémoire du nazisme. Des criminels nazis peu connus sous le feu des projecteurs“ begonnen hatte, bei der über die ersten NS-Prozesse in den 50er-Jahren diskutiert worden war. Die Folgeveranstaltung befasste sich mit den letzten Kriegsverbrecher-Prozessen bzw. mit Folgeprozessen der Nachkriegsjahre in den 2000er- und 2010er-Jahren.

Die Vortragenden kamen aus Frankreich, Deutschland und der Tschechoslowakei. Bemerkenswert für eine solche Veranstaltung in Frankreich waren die Sprachen der Vortragenden: Der deutsche Teilnehmer hielt seinen Vortrag auf Englisch, der tschechische auf Deutsch, die beiden französischen Teilnehmer:innen sprachen französisch, und die Übersetzung ins Französische wurde von zweisprachigen Teilnehmer:innen übernommen – der Berichterstatter über den Demjanjuk-Prozess antwortete auf Fragen sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch.

Die Tagung hatte zum Ziel, die Berichterstattung über Gerichtsprozesse in den Blick zu nehmen, die nicht wie die prominenten Prozesse (z.B. Auschwitz- und Eichmann-Prozess) im internationalen Rampenlicht standen. Dabei ging es letztlich auch um die Frage, welche Rolle solche Prozesse in den 2000er-Jahren, bei denen teils sehr untergeordnete Personen des Holocaust im Zentrum standen, überhaupt noch spielen konnten bzw. immer noch können – eine Frage, die hinter allen „späten“ Prozessen stand und steht. Nicht alle Referent:innen respektierten das Thema „Berichterstattung“, sodass ein leichtes Ungleichgewicht entstand zwischen denen, die über die Berichterstattung und denen, die „nur“ über die Prozesse selbst sprachen. Der Rezensent gesteht allerdings, dass das Nichtrespektieren der Thematik seitens einiger weniger Vortragenden der Veranstaltung seines Erachtens nicht wirklich geschadet hat, da die Vorträge sämtlich außergewöhnlich interessant waren.

Die Vortragenden stellten jeweils die Fallstudie eines Täters oder mehrerer Täter im NS-System und ihrer späten (oder gescheiterten) Verurteilung ins Zentrum. Diese Täter wurden sämtlich erst kurz vor oder nach 2000 verurteilt, obwohl sie als Nazi-Verbrecher teilweise bereits lange gesucht wurden bzw. bereits bekannt waren1. Vielleicht bilden die Nachkriegsschicksale dieser Männer vor ihrem Prozess einen der interessantesten Aspekte der Vorträge. Dabei zeigen sich – übrigens wie in der ersten Veranstaltung im Juni 2021 – gewisse Gemeinsamkeiten bei der Aufarbeitung der betreffenden Verbrechen. So besteht eine Gemeinsamkeit in der langen Zeitspanne zwischen den Taten und den Prozessen. Zwei Prozesse mussten wegen des Alters der Täter zur Tatzeit vor Jugendgerichten verhandelt werden – was zum absurden Anblick eines Greises im Rollstuhl vor einem Jugendrichter führte. Auch erst spät gefundene oder ausgewertete Akten wie die von Julius Viel, Wachmann in der Kleinen Festung Theresienstadt, und die von Friedrich Siegfried Engel, als „Schlächter von Genua“ bekannt, führten naturgemäß zu späten Prozessen.

Des Weiteren ist zu bemerken, dass die betreffenden Personen – und dies entsprach der Thematik der beiden Veranstaltungen – eher in den hinteren Reihen der zur Rechenschaft gezogenen Nazi-Schergen zu finden waren. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht bekannt waren oder sich etwa durch Auswanderung oder dauerhaften Namenswechsel der Verfolgung entzogen hätten. So wurde anhand des Beispiels von Bruno Dey erwähnt, dass eine bestimmte Kategorie gesuchter Nazis in der Bundesrepublik Deutschland ab 1951 Straffreiheit erhielt, wenn der Betroffene seinen falschen Namen ablegte.

Sieht man von der erwähnten Gemeinsamkeit ab, dass die Prozesse sämtlich 55 und mehr Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stattfanden, sowie von der Tatsache, dass alle Angeklagten nicht zur höchsten Kategorie der NS-Kriegsverbrecher gehörten, stellt sich die Frage, ob es nicht noch mehr Gemeinsamkeiten zwischen Tätern und Prozessen gab. In gewisser Weise ist die späte Verfolgung der Angeklagten bereits insofern interessant, als es lange Zeit anscheinend kein öffentliches Interesse gab, diese Personen zur Rechenschaft zu ziehen, obwohl bekannt war, dass sie Kriegsverbrecher gewesen waren. Zwar ist die späte Verurteilung auf verschiedene Gründe zurückzuführen, doch deutet die stets zögerliche Ingangsetzung der Justizmaschinerie darauf hin, dass in allen Fällen der Wille fehlte, solche Personen zu verfolgen. Dabei hat vielleicht der Gedanke eine Rolle gespielt, dass die Prozesse in jedem Fall zu unbefriedigenden Resultaten führen mussten – was im juristischen Sinne durchaus richtig war: Jugendverfahren für Greise; Aussetzung der Strafe; Haftunfähigkeit etc. stellten den Sinn einer Strafe in Frage.

Gemeinsam ist allen Angeklagten ebenfalls, dass sie nach dem Krieg in der Bundesrepubik nicht nur unbehelligt leben, sondern auch erfolgreich normale Berufe ausüben konnten: am bescheidensten vielleicht Bruno Dey und Karl Münter, in gesellschaftlich interessanteren Stellungen dagegen die beiden anderen Angeklagten: Friedrich Siegfried Engel war offenbar ein erfolgreicher Geschäftsmann und Julius Viel Journalist – er bekam sogar das Bundesverdienstkreuz.

Neben den Gemeinsamkeiten gibt es allerdings auch deutliche Unterschiede. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang das Schicksal der Akte Friedrich Siegfried Engel in Italien: eine Art „Vergessen“ der Vergangenheit, d.h. die Akten waren aus verschiedenen Gründen einfach nicht zugänglich. Als sie 1996 wieder auftauchten, wurde Engel 1997 in absentia wegen unter seiner Verantwortung erfolgter Vergeltungsexekutionen in Norditalien zu lebenslänglicher Haft verurteilt. In Deutschland wurde sein Prozess 2002 zunächst ausgesetzt, nach Berichterstattung in der in- und ausländischen Presse aber wieder aufgenommen. Engel wurde nun zu sieben Jahren Haft verurteilt; angesichts seines hohen Alters wurde das Urteil aber kassiert, mit der Begründung, die Haft könnte aufgrund des Alters des Verurteilten zu „lebenslänglich“ werden. Er starb 2006. Erstaunlich nannte der Referent MARTIN GOELLNITZ (Marburg) schließlich die Tatsache, dass der Prozess in Deutschland ein geringes Presseecho hatte; paradoxerweise ist dieser Täter in Deutschland weniger bekannt als in Italien.

Wie VOJTĚCH KYNCL (Prag) ausführte, wurde Julius Viel erst 1997 entdeckt, und zwar von einem ehemaligen SS-Kollegen bzw. Untergebenen. Interessant ist, dass dieses ehemalige SS-Mitglied angab, er habe seinen damaligen Vorgesetzten der deutschen Justiz aus Reue für seine damaligen Taten angezeigt. Dessen Verbrechen hatte darin bestanden, 1945 sieben jüdische Gefangene aus der Festung Theresienstadt ohne Grund eigenhändig erschossen zu haben. Das Urteil – zwölf Jahre Haft – wurde angefochten, erledigte sich jedoch mit dem Tod des Verurteilten kurz nach seinem 84. Geburtstag.

Bruno Deys Akte über seine Tätigkeit als Wachmann im KZ Stutthoff wurde erst 2016 entdeckt; sein Verfahren begann 2019 und endete mit seiner Verurteilung zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung. BÉRÉNICE ZUNINO (Besançon) analysierte die Berichterstattung darüber in zwei deutschen Tageszeitungen – BILD und TAZ. Sie stellte eine Parallele zum Eichmannprozess her, indem sie die Ikonographie der beiden Prozesse verglich, insbesondere den Glaskäfig im Prozess gegen Eichmann in Jerusalem (1961) und die Schutzkabine gegen das Coronavirus im Prozess gegen Dey 2020. Der Vergleich der Berichterstattung in dem Boulevardblatt und der etablierten linken Zeitung warf ein interessantes Licht auf den Prozess gegen einen „kleinen Fisch“ der Nazi-Mordmaschine. Es wurde deutlich, welches (auch pädagogische) Interesse solche Prozesse haben können – auch wenn, und vielleicht gerade weil – die Person des Angeklagten in den Hintergrund tritt.

Einen Sonderfall stellt der Prozess gegen einen Mittäter des Massacre d’Ascq (1944) dar, den JEAN-PAUL BARRIÈRE (Besançon) vorstellte: Der Vergeltungsakt – willkürliche Erschießungen nach einem Attentat auf deutsche Soldaten – wurde im April 1944 von der SS in Ascq in Nordfrankreich verübt. Es führte zu direkten Interventionen deutscher und französischer Stellen in Nordfrankreich, die das Massaker beendeten. Die Bestattung der Opfer wurde von dem französischen Kardinal Liénart in Anwesenheit von über 20.000 Menschen zelebriert. Nach dem Krieg wurden deutsche Verantwortliche für das Massaker in mehreren Prozessen verurteilt und später begnadigt. Karl Münter war 1949 in absentia in Frankreich verurteilt, von der Bundesrepublik aber nicht ausgeliefert worden. Als 2013 einem Enkel einer beim Massaker erschossenen Zivilperson zu Ohren kam, dass das ehemalige SS-Mitglied Karl Münter, Mittäter beim Massaker in Ascq, in Deutschland nach wie vor Nazi-Ideologie verbreitete, versuchte er, Anklage zu erheben; das Prinzip ne bis in idem erlaubte jedoch nicht, ihn ein zweites Mal zu verurteilen. Erst als Münter noch im Jahr 2018 öffentlich die Aktion in Ascq verteidigte, wurde erneut ein Verfahren gegen ihn ins Auge gefasst. 2019 wurde Münter wegen Holocaust-Leugnung angeklagt, verstarb jedoch vor Prozessbeginn.

Der Journalist RAINER VOLK (Baden-Baden) berichtete im Dialog mit Nathalie le Bouëdec (Dijon) über seine Erfahrungen als Zeitzeuge und Berichterstatter im Prozess gegen Iwan/John Demjanjuk im Jahr 2015, über den er auch ein Buch veröffentlicht hat.2 Auch hier stellte sich die Frage, welchen Sinn ein solcher Prozess mehr als 60 Jahre nach den Taten noch haben konnte, umso mehr im Fall des kriegsgefangenen Sowjetsoldaten, der für die Beaufsichtigung des KZs in Dienst genommen worden war. Gegen Demjanjuk war schon in Israel ein Prozess geführt worden – allerdings war er irrtümlich für Taten einer anderen Person verurteilt und dann freigelassen worden. Demjanjuks Schicksal war recht typisch für Bewohner dieses Teils von Europa im Zweiten Weltkrieg, sodass sowohl Volk als auch ein Teilnehmer im virtuellen Publikum große Zweifel am Sinn dieses sehr späten Prozesses sowie auch an seinem Ergebnis äußerten. Die Einschätzung, dieser Prozess sei das letzte Verfahren gegen einen lebenden NS-Täter gewesen, hat sich übrigens als Irrtum herausgestellt, da zur Zeit der Abfassung dieses Tagungsberichts der Prozess gegen die 96jährige ehemalige Verwaltungsangestellte Irmgard Furchner bevorsteht, die Sekretärin des Lagerkommandanten von Stutthof war.

MARIE-BÉNÉDICTE VINCENT (Besançon) fasste am Ende die Ergebnisse der Tagung zusammen und stellte gemeinsame Beobachtungen dieser letzten Prozesse vor. So seien einerseits die Urteile gegen die spät entdeckten Täter relativ milde ausgefallen, vielleicht auch, weil die Zeit der spektakulären Prozesse (Nürnberger Prozesse, Eichmann) längst vorbei war, andererseits liege die Funktion dieser Prozesse eher auf dem Gebiet der Erinnerung und der politischen Aufklärung („pédagogie“). Im Zusammenhang mit Ascq bemerkte Vincent zudem, dass Prozessen gegen Holocaust-Leugner (wie etwa dem Prozess gegen den französischen Politiker der äußersten Rechten, Jean-Marie Le Pen) auch in Zukunft eine wichtige Rolle zukomme. Diese Beobachtung erscheint dem Berichterstatter als besonders interessant, denn sie deutet auf eine Verschiebung in der Bedeutung hin, von den (letzten) Prozessen gegen noch lebende Täter:innen zu solchen gegen Holocaust-Leugner. Mit ersteren wird die öffentliche Erinnerung als Mittel der „pédagogie“ nicht verschwinden, ebenso wenig wie die Holocaust-Leugner verschwinden werden – solange diese existieren, existieren auch die Mittel gegen sie. Prozesse gegen Täter sind bald nicht mehr möglich, Prozesse gegen Holocaust-Leugner werden aber – leider – nach wie vor nötig sein.

Konferenzübersicht :

Nathalie Le Bouëdec (Université de Bourgogne, Dijon): Introduction: Des années 1950 aux années 2000-2010

Martin Göllnitz (Philipps-Universität Marburg): Old Men, Late Judgments? The „Butcher of Genoa“ in Court Reporting and Collective Memory of the Early 2000s

Vojtěch Kyncl (Akademie der Wissenschaften, Prag): Julius Viel. Wachmann der Kleinen Festung Theresienstadt und ehrenhafter Bürger

Jean-Paul Barrière (Université de Franche-Comté, Besançon): Le massacre d’Ascq 1944 par les SS: rejeux médiatiques contemporains des procédures judiciaires (années 2010)

Bérénice Zunino (Université de Franche-Comté, Besançon): Le procès Bruno Dey, un nouveau procès à la cage de verre?

Diskussion mit Rainer Volk (Journalist beim Südwestdeutscher Rundfunk): Ein Strafprozess als Spektakel: Ein Blick auf den Demjanjuk-Prozess und die Medien

Marie-Bénédicte Vincent (Université de Franche-Comté, Besançon): Bilanz

Anmerkungen:
1 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die Verzögerung der Prozesse von zwei Verurteilten nicht darauf zurückzuführen war, dass niemand vorher von der Verstrickung der am Ende doch noch angeklagten und verurteilten Personen in Naziverbrechen gewusst haben konnte, denn zwei der vier behandelten Prozesse waren Zweitverfahren.
2 Rainer Volk, Das letzte Urteil. Die Medien und der Demjanjuk-Prozess, München 2012. Clemens Vollnhas hat das Buch auf HSozKult besprochen: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-18914.